Artikel, 12.04.2024

„Change – with the brain in mind“ – Neuro-Leadership bietet große Chancen in Veränderungsprojekten

Chiara Polverini, Head of People and Culture bei workingwell, über Neuro-Leadership und wie dieser Ansatz für ein erfolgreiches Change-Management genutzt werden kann.

Chiara, was steckt hinter dem Konzept des Neuro-Leaderships?

Dieser Ansatz nutzt die Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft und bietet Führungskräften die Möglichkeit die Bedürfnisse und Motivationen ihrer Mitarbeitenden besser zu verstehen. Mit diesem Wissen können sie ihre Teams so führen, dass die unterschiedlichen Potenziale entfaltet und auch der Zusammenhalt gestärkt werden kann.

Dabei spielt unter anderem das Belohnungs- und Bedrohungssystem im menschlichen Gehirn eine wichtige Rolle. Das SCARF® Modell des Neuroleadership Institutes beschreibt die fünf neurobiologische Bedürfnisse: Status, Gewissheit, Autonomie, Verbundenheit und Fairness.(Im Englischen: status, certainty, authonomy, relatedness und fairness)

Jeder Mensch hat demnach eine bestimmte Motivationsstruktur. Ist sich eine Führungskraft darüber bewusst, kann sie nicht nur die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden besser verstehen, sondern sie auch gewinnbringend in Veränderungsprojekte einbinden.

Neuro-Leadership kann also als „gehirngerechtes Führen“ bezeichnet werden? Was kann ich mir konkret darunter vorstellen?

Wenn sich Menschen innerhalb eines Systems nicht wirklich integriert fühlen, dann entsteht ein Gefühl der Unzufriedenheit, welches sich, in extremeren Ausprägungen in Angst und Schmerz äußern kann. Die Neurowissenschaft hat belegt, dass diese soziale Form von Angst im Gehirn an den gleichen Stellen identifizierbar ist wie der körperliche Schmerz. Die Chancen für gehirngerechtes Führen liegen vor allem darin: Herausforderungen zu meistern, Wissen zu vernetzen, eine Fehlerkultur zu leben und für positive Erfahrungen zu sorgen. Demnach kann eine Führungskraft durch das eigene Verhalten positiv auf die Motivationsstruktur eines Menschen einwirken.

Welche Erkenntnisse aus dem Neuro-Leadership lassen sich auf Change-Prozesse im Unternehmen übertragen?

Eigentlich ist unser Gehirn ideal dafür, mit dem immerwährenden Wandel umgehen zu können. Das Gehirn kann sich bis ins hohe Alter immer wieder anpassen und entwickeln. Auf dieser Erkenntnis fußt das Neuro-Leadership-Konzept. Wir müssen nur den Wandel als Normalzustand begreifen. Neurowissenschaftler nennen diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns Neuroplastizität.

Wie man aus einer gehirngerechten Perspektive eine erfolgreiche Transformation gestalten kann, würde ich gerne anhand von den drei Phasen eines typischen Veränderungsprojekts am Arbeitsplatz aufzeigen, wie wir es unseren Kunden normalerweise anbieten. Angefangen von der Vorbereitungsphase über die Umsetzungsphase bis abschließend zur Stabilisierung.

Und wie steigt Ihr in Change-Projekte ein?

In der Vorbereitungsphase wird zunächst festgelegt, warum die Veränderung notwendig ist und wie der Prozess ablaufen soll.

Die Definition einer inspirierenden, aber realistischen Vision, einer klaren Angabe, wie das Ergebnis nach der Umgestaltung aussehen würde, muss der allererste Schritt sein – unabhängig davon, wie klein oder groß die Umgestaltung sein wird. Das Festlegen klarer Ziele setzt das Belohnungssystem des Gehirns in Gang. Es setzt Dopamin [1] frei – das Glückshormon, welches ein positives Verhalten verstärkt. Führungskräfte können die Motivation ihrer Teams während des gesamten Veränderungsprozesses aufrechterhalten. Das gelingt, indem sie ihre Mitarbeitenden frühzeitig in den Zielsetzungsprozess einbeziehen und regelmäßig Feedback einholen.

Auf diese Weise wird eine sehr klare Botschaft vermittelt: Veränderungen mögen unvermeidlich sein, aber das Fachwissen und der Beitrag jedes Einzelnen sind nicht nur gefragt, sondern auch geschätzt und werden berücksichtigt. Meiner Erfahrung nach ist dies ein fundamentaler Schritt, um das Gefühl der Bedrohung zu verringern und den Einflussbereich der Mitarbeitenden zu erweitern.

In der Vorbereitungsphase wird also das Gefühl der Bedrohung minimiert und optimalerweise der Grundstein für die Akzeptanz des notwendigen Wandels gelegt. Wie geht Ihr in die Umsetzung?

Sobald die Vision und die Ziele festgelegt sind und die Informationen auf allen Führungsebenen ausgetauscht wurden, besteht der nächste entscheidende Schritt darin, eine abteilungsübergreifende Gruppe von Mitarbeitenden zu bilden, die als Botschafter:innen für den Wandel dienen. Um erfolgreich zu sein, muss diese Gruppe divers aufgestellt sein und verschiedene Funktionen repräsentieren. Ich empfehle immer, auch diejenigen einzubeziehen, die sich aus verschiedenen Gründen von der Veränderung eher bedroht fühlen.

Erfolgreiche Veränderungsbemühungen erfordern den Einsatz von positiven Vorbildern, um Akzeptanz und Begeisterung für die vorgeschlagenen Veränderungen zu erzeugen. Ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft kann unsere Spiegelneuronen [2] aktivieren, was zu einem stärkeren Engagement und einer größeren Akzeptanz des Wandels seitens der Mitarbeitenden führt.

Die Erkenntnisse des Neuro-Leaderships zeigen auch, wie wichtig es ist, die Kommunikation zu vereinfachen und die Informationsflut bei Veränderungsinitiativen zu minimieren. Durch die Präsentation von Informationen in leicht verdaulichen Häppchen und den Einsatz von Erzähltechniken können Führungskräfte die kognitive Belastung reduzieren.

Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre ist, auch – und gerade dann – zu kommunizieren, wenn es nichts „Neues“ mitzuteilen gibt. Gerade diese Phasen können zu einem fruchtbaren Boden für Unsicherheit, Klatsch und falsche Informationen werden. Führungskräfte haben zudem oft einen gewissen Informationsvorsprung und müssen deshalb die „Illusion der Transparenz“ vermeiden. Das bedeutet, wir müssen die Voreingenommenheit ablegen, zu denken, dass das, was wir wissen und was wir kommuniziert haben, für alle klar genug ist. Tatsache ist: das ist es meistens nicht!

Wir kommen zur Stabilisierungsphase. Worauf kommt es dabei an?

Der Wandel ist viel mehr als nur ein Projekt. Unternehmen müssen ihn als einen kontinuierlichen Zustand begreifen, um weiter zu wachsen, Leistung zu erbringen und Talente zu halten. Veränderungen sind jedoch schmerzhaft: Unser präfrontaler Kortex [3] ermüdet stark, wenn wir unser Arbeitsgedächtnis beanspruchen, und unsere Basalganglien [4] müssen sich neu orientieren, bevor sie die neuen Gewohnheiten als Routine in die neuronalen Schaltkreise einbauen. Während des gesamten Veränderungsprozesses müssen die Führungskräfte die beteiligten Mitarbeitenden belohnen. Also:

  • den Erfolg feiern und sich auf alle Aspekte konzentrieren, die gut gelaufen sind,
  • die Menschen als Gemeinschaft zusammenbringen und ihren Beitrag zum Prozess hervorheben,
  • sich darauf konzentrieren, das Gelernte zu wiederholen und neue Gewohnheiten zu würdigen.

Durch die Erkenntnis, wie viel die Teams mit ihrer Teilnahme und ihrem Engagement zum Erfolg beigetragen haben, wird wieder Dopamin freigesetzt, und die Mitarbeitenden werden bestrebt sein, die Belohnung zu wiederholen. Außerdem wichtig: Die neuen Gewohnheiten lassen sich nur schwer wieder verlernen.

Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass das Management bereit und offen ist, Aspekte, die weniger erfolgreich waren als erwartet, zu bewerten und anzupassen. Der Umgang mit Misserfolgen als normalem Teil eines jeden Prozesses macht dies zu etwas Normalem und trainiert die Mitarbeitenden, mutiger und bereitwilliger zu werden, neue Dinge auszuprobieren – was unser Gehirn gerne tut!

Abschließend: was ist Dein Aufruf an die Mitarbeitenden und Führungskräfte?

Menschen mögen Veränderungen – aber Menschen mögen es nicht, verändert zu werden. Mit den richtigen Werkzeugen und einer wachstumsorientierten Denkweise werden Veränderungen zu äußerst lohnenden Erfahrungen, an denen man wachsen kann. Die neue Normalität beginnt in unseren Gehirnen! Durch die Anerkennung und Nutzung seines Potenzials geben wir Veränderungen eine Chance.


[1] Dopamin ist ein Botenstoff im Gehirn, der immer dann ausgeschüttet wird, wenn das Erwartungssystem unseres Gehirns die Annahme hat, dass wir eine schwierige Aufgabe erfolgreich bewältigen können.

[2] Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die aktiviert werden, wenn eine Handlung durchgeführt, beobachtet oder auch nur darüber nachgedacht wird. Sie haben für soziale Lebewesen eine große Bedeutung. Menschen sind zum Beispiel dadurch in der Lage, unterschiedliche Emotionen des Gegenübers zu erkennen.

[3] Der präfrontale Cortex ist ein Teil des Gehirns und spielt eine Rolle im Belohnungssystem.  Er hilft, die Erwartung von Belohnungen zu regulieren.

[4] Basalganglien sind einer Gruppe von Gehirnstrukturen. Sie sind für freiwillige motorischen Bewegungen (Willkürmotorik), prozedurales Lernen, Kognition und Emotionen verantwortlich.


Chiara Polverini

Chiara ist zertifizierte systemische Change Facilitatorin, systemischer Resilienzcoach und Teamcoach. Sie hat am Neuroleadership Institute ihre Zertifizierung im Bereich „Foundations of Neuroleadership“ erworben. Mit den unterschiedlichen und fundierten wissenschaftlichen Tools begleitet sie Menschen, mit Fokus Führungskräfte und Management, auf dem Weg zu den Veränderungen. Bei workingwell ist sie Head of People & Culture.
Kontakt: chiara.polverini@workingwell.com

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